W+M sprach mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, Staatsminister Carsten Schneider, über die Arbeit der ersten 16 Monate im Bundeskanzleramt, die Zusammenarbeit von Bund und ostdeutschen Ländern, seinen Kampf für mehr Ostdeutsche in Führungspositionen und die in seiner Verantwortung liegende Entwicklung des Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle.

W+M: Sie sind jetzt 16 Monate im Amt. Ostbeauftragter der Bundesregierung ist eine Aufgabe mit viel Gestaltungsspielraum. Was haben Sie bisher konkret erreicht?

Carsten Schneider: Meine Arbeit im Kanzleramt macht mir viel Freude, vor allem auch die wirtschaftlichen Themen. Es ist viel in Bewegung. Die nächsten Jahre in Ostdeutschland sind auch entscheidend für Deutschland, gerade was die Energiepolitik betrifft.

Die Position des Ostbeauftragten im Bundeskanzleramt hat klare Vorteile. Denken Sie nur an die Unternehmensstabilisierung im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit infolge des russischen Angriffskrieges. Es gab viele Krisensitzungen, beispielsweise auch für den Chemiebereich.

Die Position im Kanzleramt hat auch dazu beigetragen, dass es jetzt eine stärkere politische Phalanx der ostdeutschen Bundesländer gibt. Dass wir es geschafft haben, über Parteigrenzen hinweg, gemeinsam mit dem Bundeskanzler die Erklärung von Riems zur Entwicklung Ostdeutschlands zu verabschieden, uns bei der Fachkräfteeinwanderung, dem Ausbau der Erneuerbaren und für den Industriestandort zu positionieren, das ist ein großer politischer Erfolg.

Darüber hinaus habe ich mich eingesetzt für das Wachstum und die Verstetigung der Mikroelektronik, sowohl in Dresden als auch in Magdeburg. Hier werden wir Weltspitze und Teil der erforderlichen Souveränität in Europa sein.

Ich bin viel in den ostdeutschen Bundesländern unterwegs und mit Vertretern aus Unternehmen und Gewerkschaften im Gespräch. Die interessanten Begegnungen und Erfahrungen vor Ort helfen mir, unsere Einschätzungen abzugleichen und gleichzeitig für unsere Arbeit in Berlin zu werben

Die Herausforderungen der Betriebsübergänge meistern

W+M: Die ostdeutsche Wirtschaft ist verhältnismäßig gut durch die Krisen gekommen. Wie bewerten Sie die Situation?

Carsten Schneider: Die Wirtschaft im Osten ist sehr heterogen aufgestellt, jede Region hat spezielle Stärken. Der Nachteil kleinerer Strukturen wird zum Vorteil bei der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Unternehmen. Letztlich fehlt es aber gerade in kleineren Unternehmen an Forschung und Entwicklung. Deshalb ist es auch ein Ziel, dass wir die Herausforderungen der Betriebsübergänge meistern. Die Fachkräftelücke macht sich auch beim Unternehmernachwuchs bemerkbar. Die Herausforderung ist es, Nachfolger zu finden, auch um zu größeren Unternehmen zu wachsen. Wir brauchen mehr Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern, um auf den überregionalen Märkten aktiver werden zu können. Der geringe F/E-Anteil und die Exportquote sind dafür ein Hemmnis.

Carsten Schneider, Staatsminister und Beauftragter des Bundes für Ostdeutschland. Foto: W+M

Ich möchte, dass wir in Ostdeutschland nicht mehr nur verlängerte Werkbank sind, sondern dass wir Verantwortung für die eigene Zukunft übernehmen. Dabei habe ich große Hoffnungen, dass die gut ausgebildeten Nachfolger bestehender Unternehmen mit einem neuen Blick und größeren Ziele an die Arbeit gehen.

Die Herausforderung für wachsende Unternehmen besteht ab einer gewissen Größe darin, sich neu aufzustellen und Verantwortung zu teilen.

Ohne Ostdeutschland würde es kaum noch große Unternehmensansiedlungen geben und auch die Energiewende wäre nicht vorstellbar. Hier sind noch Flächen vorhanden und die Offenheit für neue Technologien ist groß. Das bietet die Chance für eine Reindustrialisierung.

W+M: Die MPK Ost vom 13.06.2022 auf der Insel Riem hat eine Riemser Erklärung verabschiedet. Sie umreißt die Potenziale, die Herausforderungen und die gemeinsame Agenda von Bund und Ländern für Ostdeutschland. Warum wird dies so wenig kommuniziert?

Carsten Schneider: Die Riemser Erklärung ist kein Geheimdokument, sondern für jedermann auf der Webseite der Bundesregierung einzusehen.

Es ging darum, ein politisches Papier zu entwickeln, das die gemeinsamen Ziele von Bund und ostdeutschen Ländern herausstellt. Die Riemser Erklärung betont das gemeinsame Verständnis für die unterschiedlichen Herausforderungen im Osten. Das betrifft natürlich nicht nur das Gelingen der Energiewende, sondern auch das Thema Fach- und Arbeitskräfte. Gerade in Ostdeutschland haben wir noch Potential bei der Willkommenskultur und auch für ausländische Fachkräfte.  In Schwerin haben wir im Februar dazu einen gemeinsame Fachkräftekonferenz von Bund und Ländern organisiert. (W+M-Link auf News). Wir brauchen qualifizierte, aber auch gesteuerte Zuwanderung.

Ich zitiere die Riemser Erklärung gern und oft, denn ein solches gemeinsames Verständnis für die Entwicklung gibt es für keine andere Region Deutschlands. Sie zeigt, Ostdeutschland und der Bund sind sich einig. Die ostdeutschen Länder brauchen die Stärke und die Kraft des Bundes, aber der Bund braucht auch Länder, die ihm zugewandt sind. Und das haben wir erreicht. Deshalb werden auch die Transformationen der Raffinerien in Schwedt und Leuna oder im Energiehafen Rostock gelingen.

Das unterstreicht dann gleichzeitig auch die Priorität für den Osten in der Bundesregierung.

Eliten im Osten aus dem Osten

W+M: Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine Erfindung des Westens“ erstürmt die Bestsellerlisten. Zurecht?

Carsten Schneider: Ich kenne sowohl Dirk Oschmann als auch das Buch. Es ist ein sehr wütendes Buch. Der Autor gibt vielen Menschen aus dem Osten eine Stimme und versucht, deren Lebenserfahrung widerzuspiegeln. Mir fehlen aber die Lösungsansätze und manches ist mir zu defätistisch. Ich hatte nie ein Problem damit, Ostdeutscher zu sein und dies verheimlichen zu wollen. Aber ich verstehe ihn insofern, als dass gerade im Hochschulbereich die westdeutsche Dominanz so eklatant, wie sie sonst nur noch in der Justiz anzutreffen ist, was genaugenommen noch schlimmer ist. Stellen sich vor, in Bayern wären über 80 Prozent der Richter aus dem Osten. Unvorstellbar.

W+M: Die Kabinettsvorlage für mehr ostdeutsche Führungskräfte sieht eine Sonderbehandlung für Ostdeutsche vor. Wieso soll das 33 Jahre nach der Wiedervereinigung noch erforderlich sein? Sie treten für mehr Gerechtigkeit ein und erzeugen Druck. Glauben Sie, dass das zum Erfolg führt oder die Missmutigen nur noch missmutiger macht?

Carsten Schneider: Nein, wir suchen hier die Auseinandersetzung. Das ist harter Kampf, denn es geht um die Macht. Ich nehme die jüngere Generation schon so wahr, dass sie auf ihre Gleichbehandlung besteht, deshalb führen sie diese Diskussion um Präsenz sehr direkt. Da Eliten sich immer aus sich selbst rekrutieren, muss man hier eingreifen, auch wenn es zu Verletzungen und Ungerechtigkeiten gegenüber den 2,5 Millionen Menschen führen wird, die zu uns gekommen sind.

Dass in Sachsen-Anhalt die Rechtsprechung zu fast 90 Prozent von Westdeutschen vorgenommen wird, ist ein Problem. Es gibt keinen Grund, Ostdeutsche oder Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund zurückzustellen. Sicher wird es Diskussionen geben, aber das müssen wir aushalten.

W+M: Sind Sie sicher, dass nicht den jungen Menschen, die jetzt studieren und sich Unis in Halle oder Münster aussuchen können, das Thema egal ist?

Carsten Schneider: Das dachte ich auch, aber ich habe eine andere Erfahrung gemacht. Mir haben Studenten vom N5-Symposium berichtet, dass sie oftmals als Ostdeutsche scheel angeschaut und alte ostdeutsche Klischees aufgerufen werden. Ich konnte das kaum glauben. Dagegen muss man ankämpfen.

W+M: Sie glauben nicht, dass diese Probleme die Zeit von allein löst und aktuelle Diskussionen nur für noch mehr Frust bei den Ostdeutschen sorgen?

Carsten Schneider: Nein, die Aufklärung beginnt immer mit dem Blick auf die Realität. Jetzt besteht eine einmalige Chance, den Generationswechsel für einen Neustart zu nutzen, um Leute zurückzuholen und gezielt zu schauen, dass die alten westdeutschen Netzwerke nicht dominieren.

Das Zukunftszentrum entsteht in Halle (Saale)

Carsten Schneider, Staatsminister und Beauftragter des Bundes für Ostdeutschland. Foto: W+M

W+M: Das Zukunftszentrum entsteht in Halle (Saale). Lange ging es um das Überhaupt, dann um das Wo. Jetzt geht es um einen Stararchitekten und ein Bauwerk von besonderer Beachtung. 200 Millionen Euro sind kein Pappenstiel. Was ist konkret geplant und ab wann wird dort richtig gearbeitet?

Carsten Schneider: Wir starten, bevor der Bau fertig ist. Ich möchte nicht die Situation des Berliner Stadtschlosses haben, wo erst die Hülle errichtet und dann über die Nutzung nachgedacht wurde. Ich bin verantwortlich dafür, dass wir noch in diesem Jahr loslegen. Es ist eine Gesellschaftsform für die Gründung zu finden, eine Geschäftsführung muss bestellt werden, das Konzept für die Bereiche Wissenschaft, Kultur und Dialog ist zu entwickeln. Dann wird das Zentrum, Mittel- und Osteuropa und die Welt einladen, Transformationspraxis zu diskutieren. Das wird kein Museum, davon haben wir schon einige. Die Architektur soll die Einmaligkeit der Institution unterstreichen. Mein Anspruch ist es, dass wir etwas Exzellentes und Aufregendes hinbekommen, aber eben nicht nur für die Deutschen, sondern für Europa und hier speziell für Osteuropa.

Halle ist ein sehr guter Ort dafür, weil es hier diese Industrietradition neben einer Kunsthochschule Burg-Giebichenstein gibt, weil die Stadt unfertig und lebendig und eben kein Museum ist.

W+M: Eine letzte Frage: Sie sind aufgrund Ihrer Funktion als Staatsminister und Ostbeauftragter der Bundesregierung ein begehrter Schirmherr. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um Sie als Schirmherr zu gewinnen?

Carsten Schneider: Wenn das engagierte Menschen sind und ich sie in ihrer Arbeit unterstützen und für größere Sichtbarkeit sorgen kann. Dann übernehme ich gern die Schirmherrschaft für Projekte und Initiativen. Das hat nichts mit der Größe zu tun, sondern ob es mit Herz gemacht wird und ob es sich lohnt.

Carsten Schneider, Staatsminister und Beauftragter des Bundes für Ostdeutschland im Gespräch mit W+M-Verleger Frank Nehring. Foto: W+M

Interview: Frank Nehring

 

 

 

 

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