Im Interview mit Wirtschaft + Markt spricht Prof. Dr. Mario Ragwitz, Sprecher des Fraunhofer-Wasserstoff-Netzwerks und Leiter der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG in Cottbus über realistische Ziele der Wasserstoff-Wende, Wasserstoff als Standortfaktor für Ostdeutschland und seinen Einsatz in der Industrie.
W+M: Herr Prof. Dr. Ragwitz, in welchen Bereichen ist der Einsatz von Wasserstoff wirtschaftlich sinnvoll?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Wasserstoff kann in der Grundstoffindustrie und für den Flug-, Schiffs- und Schwerlastverkehr eine wichtige Rolle spielen. Im Langstreckenflugverkehr und im Seeverkehr wird eine hohe Energiedichte benötigt, wodurch synthetische Kraftstoffe als alternativlos erscheinen. Für den schweren Straßengüterverkehr zeigt sich aber auch ein starker Trend zur direkten Elektrifizierung.
Eine vergleichende Auswertung wichtiger Transformationsstudien im Auftrag des Nationalen Wasserstoffrats hat No-Regret-Anwendungen identifiziert, die Wasserstoff stofflich einsetzen müssen, wie beispielsweise grüne Basischemikalien und grüne Stahlerzeugung. Hier wird kein Weg am Wasserstoff vorbeiführen, wenn wir die Wertschöpfung in Deutschland halten wollen.
In der Gaswirtschaft wird Wasserstoff als THG-neutrales Zukunftsmodell auch für die Wärmeerzeugung kontrovers diskutiert. Es klingt verlockend, ist in der Realität aber deutlich schwieriger. Das Erdgasnetz muss umgestellt werden und die H2-Produktionskosten sind im Vergleich zu Alternativen basierend auf Umweltwärme und Wärmepumpen deutlich höher.
Wasserstofftankstelle der H2 MOBILITY Deutschland. Foto: H2 MOBILITY Deutschland GmbH & Co. KG
W+M: Welchen Anteil des Wasserstoffs wird Deutschland selbst erzeugen können und welchen muss es importieren?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Deutschland wird wie bisher Gas und Öl in Zukunft auch Wasserstoff importieren müssen, da die Grundstoffindustrie einen hohen Bedarf hat, der nicht vollständig aus eigener Erzeugung gedeckt werden kann. Mit fortschreitender Energiewende wird die Abhängigkeit von Energieimporten insgesamt sinken. Die Nationale Wasserstoffstrategie geht davon aus, dass Deutschland im Jahr 2030 einen energetischen Wasserstoffbedarf von 95-130 TWh haben wird, von denen etwa 50-70 TWh importiert werden sollen.
W+M: Kann Deutschland die nötigen Elektrolysekapazitäten für die Produktion von Wasserstoff aufbauen?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Laut dem Elektrolyse-Monitor im H2-Kompass gibt es bereits heute zahlreiche angekündigte Projekte, die bis 2030 eine Elektrolyse-Kapazität von 11,3 GW bereitstellen könnten. Allerdings sind viele dieser Projekte noch sehr unsicher und in einem frühen Planungsstadium. Bis 2045 wird eine Kapazität von etwa 50 GW benötigt, um den Bedarf zu decken. Es ist möglich, diese Kapazitäten aufzubauen, aber es erfordert eine konsequente Umsetzung und Investitionen. Hier liegen auch große Chancen für Ostdeutschland, rechtzeitig Innovationen und Investitionen in die Strukturwandelregionen zu holen und neue Wertschöpfung aufzubauen.
W+M: Ist der nötige Mehrbedarf an erneuerbarer Energie und Wasser realistisch zu decken?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: In Deutschland wird kurz bis mittelfristig das Angebot erneuerbarer Energien das begrenzende Element sein. Erst ab dem Jahr 2035, wenn der klassische Strombedarf zu 100 Prozent durch erneuerbare Energien gedeckt wird, werden hinreichende Mengen für eine nationale Wasserstoffproduktion verfügbar sein. Diese werden allerdings auch langfristig nur etwa ein Drittel der heimischen Nachfrage decken. Der Rest wird importiert. Für diese Menge an heimischer Wasserstoffproduktion ist der Bedarf an Wasser sehr unkritisch und entspricht weniger als ein Promille der Niederschlagsmenge in Deutschland.
W+M: Ist das Erreichen einer Importquote von 70 bis 75 Prozent realistisch?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Kurz zur Einordnung: Deutschland importierte vor der Energiewende auch Energie in dieser Größenordnung, sei es als Gas, Öl, Kohle oder Uran. Gerade in Ostdeutschland gibt es bekanntermaßen Gasinfrastrukturen, die nun umgewidmet werden können. Die Erreichung einer Importquote von 70 bis 75 Prozent für Wasserstoff im Jahr 2030 hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die genaue relative Größe der Importquote ist letztlich abhängig von der unterstellten Menge an Wasserstoff. Die Prognose des Weltenergierats von 60-70 TWh importiertem Wasserstoff erscheint vor dem Hintergrund der zahlreichen potenziellen Bezugsoptionen machbar. Es wird jedoch auch wichtig sein, die internationale Flotte für den Wasserstofftransport auszubauen. Langfristig wird die Bedeutung des Pipeline-Imports aus und über die europäischen Nachbarländer an Bedeutung gewinnen.
W+M: Wo soll der Wasserstoff herkommen?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Es gibt verschiedene potenzielle Herkunftsländer für den importierten Wasserstoff. Dazu gehören Länder im Nahen Osten und Nordafrika sowie Spanien, Australien, Kanada und Norwegen. Deutschland hat bereits Energiepartnerschaften mit mehreren dieser Länder geschlossen oder in Aussicht gestellt, um den Bedarf an Wasserstoff zu decken. Hier entwickeln sich echte Partnerschaften zur gemeinsamen Entwicklung von Wertschöpfungsketten und Wirtschaftswachstum.
W+M: Wie soll der Wasserstoff transportiert werden?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Voraussichtlich wird der Wasserstofftransport bis zum Jahr 2030 hauptsächlich schiffsgebunden erfolgen, da das europäische Wasserstoff-Pipelinenetz noch im Aufbau ist. Langfristig wird pipelinegebundener Transport von Flüssigwasserstoff dominieren. Eine vielversprechende Methode für den Wasserstofftransport ist die Verwendung von Ammoniak (NH3) als Wasserstoffträgermedium. Ammoniak hat eine hohe Energiedichte und kann effizient transportiert werden. Es werden jedoch weitere Forschung und Entwicklung benötigt, um die zuverlässige Handhabung und den Transport von Ammoniak in diesen Mengenkategorien zu gewährleisten.
W+M: Für welche Industrien in Ostdeutschland ist der Einsatz von Wasserstoff technologisch und wirtschaftlich überhaupt sinnvoll?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Viele Industrien in Ostdeutschland können vom Wasserstoff profitieren. Beispiele dafür sind die Stahlerzeugung bei ArcelorMittal, die Raffinerie/SAF-Herstellung bei PCK in Schwedt oder der Chemiepark Leuna. Wasserstoff kann in diesen Industrien als sauberer Energieträger eingesetzt werden, um CO2-Emissionen zu reduzieren und Nachhaltigkeit zu fördern. Das wäre dann ein echter Standortvorteil im internationalen Wettbewerb. Nachhaltige Produktionsstätten sind für immer mehr Investoren ein „Muss“, kein „Kann“.
W+M: Ist Wasserstoff für Ostdeutschland ein Standortfaktor?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Ja, Wasserstoff kann für Ostdeutschland ein wichtiger Standortfaktor sein. Die Region verfügt über die gesamte Wertschöpfungskette von der Entwicklung über die Fertigung bis zur Anwendung von Wasserstofftechnologien. Die Küstenregion ist schon jetzt ein Produzent von erneuerbarer Energie. Durch die Vernetzung von Akteuren über die Bundesländergrenzen hinweg kann Ostdeutschland zu einer Vorreiterregion in Wasserstofftechnologien werden. Dies bietet langfristige Chancen für den Anlagenbau und stärkt den Standort Ostdeutschland als zukunftsträchtigen Markt für Wasserstofftechnologien.
W+M: Benötigt die Wirtschaft Subventionen für den Umstellungsprozess und das Hochfahren einer Wasserstoffwirtschaft?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Die Umstellung auf eine Wasserstoffwirtschaft erfordert nicht nur Subventionen, sondern auch einen verlässlichen Rahmen und klare Leitplanken von der Politik. Die Industrie benötigt Innovationsförderprogramme wie die Klimaschutzverträge für die Dekarbonisierung in der Industrie, CO2-Bepreisung und Investitionssicherheit. Es ist wichtig, den Innovationsstandort zu sichern und langfristige Förderungen für innovative Technologien für die Energiewirtschaft von morgen und übermorgen bereitzustellen, um den Zukunftsmarkt zu erschließen.
W+M: Wie lassen sich die hohen Kosten für Wasserstoff-Brennstoffzellen für den Verkehr senken?
Prof. Dr. Mario Ragwitz: Die hohen Kosten für Wasserstoff-Brennstoffzellen können auf verschiedene Weise gesenkt werden. Durch Skaleneffekte kann eine Massenproduktion von Brennstoffzellen erreicht werden, was zu Kosteneinsparungen führt. Zudem ist die Weiterentwicklung von Komponenten wichtig, um robustere, leichtere und kompaktere Bauweisen zu ermöglichen. Fortschritte in der Materialforschung und eine verbesserte Effizienz tragen ebenfalls zur Kostensenkung bei.
Zur Person: Prof. Dr. Mario Ragwitz
ist gemeinsam mit Prof. Rolf Bracke Institutsleiter des Fraunhofer IEG und Sprecher des Fraunhofer-Wasserstoff-Netzwerks, das die Arbeit von 35 Instituten in diesem Themenfeld koordiniert. Als Professor der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg leitet er an der Fakultät für Maschinenbau, Elektro- und Energiesysteme das Fachgebiet Integrierte Energieinfrastrukturen. Der gebürtige Cottbuser ist promovierter Physiker und befasst sich mit Fragestellungen der Energiesystemanalyse, der Modellierung von Energieinfrastrukturen sowie der Transformationsforschung im Energiebereich.
Fragen: W+M, Matthias Salm
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